
Josef, 20.1.2025
Liebe Mona
In acht Jahrzehnten Leben sind etliche
Herausforderungen unvermeidlich. Unser aktuelles Thema lässt deshalb für mich
eine grössere Auswahl offen als für dich. Umso mehr interessiert es mich, was
du aus deinem Repertoire herausgreifst.
Ich habe mich für eine Herausforderung aus dem Berufsleben entschieden. Sie hatte ihren Ursprung in einer von mir angestrebten Situation. Die Wahl an die neue Stelle empfand ich als Glücksfall.
Ich hatte acht gute Jahre als Sekundarlehrer und zehn ebensolche als Journalist hinter mir. Als neugieriger und damit auf Erweiterung des Horizonts bedachter Mensch wollte ich beruflich Erfahrung in einem Unternehmen der Wirtschaft machen. Die Schweizerische Bankgesellschaft SGB, heute UBS, suchte einen leitenden Angestellten in ihrer Presse- und Informationsabteilung in Zürich. Ich wurde zum Vorstellungsgespräch eingeladen und erhielt den Auftrag, einen Artikel über ein relevantes Thema zu schreiben. Der Artikel wurde mir mit 1200 Franken entschädigt – für einen Zeitungsartikel gab es damals im Maximum 100 Franken –, und ich erhielt die Stelle. Ich habe mich darüber gefreut. Als grösste Herausforderung habe ich den bewusst in Kauf genommenen Weg von Andwil an die Bahnhofstrasse in Zürich empfunden. Drei Stunden musste ich täglich für den Hin- und Rückweg aufwenden.
Daran habe ich mich gewöhnt. Zu schaffen machte mir aber, dass meine Aufgabe je länger je weniger dem Stellenbeschrieb entsprach. Das lag einerseits am wirtschaftlichen Umfeld. Die SBG geriet damals in ein schiefes Licht in Zusammenhang mit verschleierten Nummernkonti (Anlagen von Steuerfluchtgeldern). Das Weiterleiten von Medienberichten über die Vorwürfe darüber an die Generaldirektion wurde fast zur Hauptaufgabe. Journalistische Aufträge wurden zur Seltenheit. Andrerseits kam es in der Informationsabteilung zu einer Rückstufung. Die Person, deren Stelle ich zuvor übernommen hatte, genügte in der neuen Aufgabe nicht und wurde zurückversetzt. Es handelte sich um eine Person mit Doktortitel, Nadelstreifenanzug und Maserati.
Ich wurde aus der mir versprochenen Position verdrängt. Weil ich von Kind an gelernt hatte zu gehorchen und zu schlucken, liess ich mit mir Sachen machen, die heute unvorstellbar wären. Nicht bloss dass ich für gute Bezahlung anspruchslose Aufträge erledigte. Wenn ich zum Beispiel mit dem mir vor die Nase gesetzten Vorgesetzten an eine Sitzung gehen musste, drückte mir dieser sein Mäppchen in die Hand und ich musste es mittragen. Damals habe ich diese Demütigung ertragen und nur die Faust im Sack gemacht. Heute ist mir das unverständlich.
Zum Glück habe ich vom Elternhaus nicht nur unterwürfiges Erdulden, sondern auch den Willen zum Durchhalten gelernt. So bin ich aus dieser Situation nicht einfach davongelaufen, sondern habe alles daran gesetzt, wieder in den Journalismus zurückzufinden. Während mir die vorangehenden Stellen auf den Redaktionen bei der «Ostschweiz» und beim «St. Gallen Tagblatt» ohne eigenes Bemühen zugefallen waren, bemühte ich mich nun selber intensiv, von der Bank wegzukommen. Wahrscheinlich weil man mich von der Mitarbeit bei den beiden Zeitungen kannte, hatte ich ziemlich rasch Erfolg und konnte beim Regionalstudio Ostschweiz des Schweizer Radios wieder journalistisch tätig sein.
Ende gut, alles gut.
Ich hoffe, dass dir so eine negative Erfahrung erspart bleibt, liebe Mona.
Herausforderungen können auch positiv sein. Ich stelle mir vor, dass du wohl
eher über eine solche schreibst. Davon hast du ja schon eine ganze Anzahl
bewältigt.
Liebe Grüsse
Grossvater